Lieferengpässe und explosionsartige Materialpreissteigerungen sind aktuell an der Tagesordnung. Öffentliche Auftraggeber sollten sich mit dem Thema in jedem Verfahrensstadium der Beschaffung auseinandersetzen und prüfen, wie sie weiterhin im Wettbewerb mehrerer Bieter wirtschaftliche Angebote erhalten bzw. als Auftraggeber rechtzeitig noch die Vorsorge treffen können, keine Verzögerung im Bauablauf zu riskieren. Im VHB 224 ff. stehen für die Vereinbarung von Stoffpreisklauseln Musterformulare sowie Anwendungsrichtlinien zur Verfügung.
Das Bundesministerium des Innern und Heimat hat klare und verbindliche Vorgaben für seine Bundesbaubehörden und für die Bauverwaltungen auf Landesebene, die im Auftrag des Bundes Baumaßnahmen durchführen und der Fachaufsicht des Bundes unterliegen, aufgestellt. Sie stehen nicht im Ermessen, sondern sind an klare Voraussetzungen gebunden. Dazu im Einzelnen:
Der Erlass regelt, dass vor Einleitung der Vergabeverfahren entsprechende Stoffpreisklauseln zu vereinbaren sind, wenn die Voraussetzungen für die Vereinbarung nach Maßgabe der Richtlinie zum Formblatt 225 VHB vorliegen. Es besteht also kein Ermessen, dies zu prüfen.
Bei laufenden Verfahren hat der Auftraggeber zunächst nur die Wahl, ob er sie nachträglich einbezieht oder er alternativ die Ausführungsfristen verlängert. Dies setzt voraus, dass die Angebotsöffnung noch nicht erfolgt ist. Gegebenenfalls ist die Angebotsfrist zu verlängern. Verlangt ein Bieter im Verfahren die Einbeziehung einer Stoffpreisklausel, muss der Auftraggeber sie aufnehmen, wenn sie mit den Vorgaben des VHB vereinbar ist.
Ist die Angebotseröffnung bereits erfolgt, muss der Auftraggeber prüfen, ob die Zurückversetzung des Verfahrens vor Angebotsabgabe nicht geboten ist, um den Wettbewerb im Verfahren zu erhalten oder drohende Streitigkeiten bei der Bauausführung zu vermeiden.
Bei bestehenden Verträgen gilt der Grundsatz, dass diese einzuhalten sind. Ein Rechtsanspruch auf Änderung oder Aufhebung des Vertrages könnte dem Auftragnehmer aufgrund der „Störung der Geschäftsgrundlage“ (§ 313 Abs. 1 BGB) zustehen. Das ist nur in engen Grenzen möglich und dann der Fall, wenn das Festhalten am Vertrag in seiner ursprünglichen Form für den Auftragnehmer zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit nicht zu vereinbarenden und damit nach Treu und Glauben nicht zuzumutenden Ergebnissen führen würde.
Wenn es dem Bauunternehmer selbst bei Zahlung höherer Einkaufspreise nicht möglich ist, die Baustoffe zu beschaffen (tatsächliche Unmöglichkeit), kann der Fall der höheren Gewalt vorliegen. Dadurch verlängern sich die Vertragsfristen.
Das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen hat am 25.03.2022 einen weiteren Erlass veröffentlicht, der Lieferengpässe und Preissteigerungen wichtiger Baumaterialien als Folge der Ukraine-Kriegs im Fokus hat. Der Erlass ist befristet bis zum 30. Juni dieses Jahres und kann als eine Konkretisierung des Erlasses vom 25. Mai 2021 ausgelegt werden: Angesprochen sind Baumaßnahmen des Bundes bzw. Landesvergabestellen, die Baumaßnahmen im Auftrag des Bundes betreiben. Auch hier wird auf die Musterformulare und Anwendungsrichtlinien des VHB 225 verwiesen.
Der Erlass verpflichtet vom Grundsatz abzuweichen, das von Stoffpreisgleitklauseln nur im Ausnahmefall Gebrauch gemacht werden darf. Benannt werden Produktgruppen, die ein für die Bieter nicht kalkulierbares Risiko bei der Angebotserstellung darstellen:
Stahl und Stahllegierungen, Aluminium, Kupfer, Erdölprodukte (Bitumen, Kunststoffrohre, Folien und Dichtbahnen, Asphaltmischgut), Epoxidharze, Zementprodukte, Holz und Gusseiserne Rohre. Für diese Stoffe ist von der Notwendigkeit der Vereinbarung einer Stoffpreisklausel auszugehen.
Sofern es sich bei der zu beschaffenden Bauleistung um ein maschinenintensives Gewerk handelt, die Vertragsunterlagen für eine Preisgleitklausel geeignet sind und der Wert des Stoffes mehr als 1% der geschätzten Auftragssumme beträgt, ist bei anstehenden Vergabeverfahren eine Stoffpreisgleitklausel zu vereinbaren. Preisgleitklauseln sind schon zu vereinbaren, wenn der Zeitraum zwischen Angebot und Lieferung /Fertigstellung mehr als einen Monat umfasst.
Bei laufenden Vergabeverfahren, vor Angebotsöffnung, kann nachträglich eine Stoffpreisgleitklausel vereinbart werden. Gegebenenfalls müssen Fristen entsprechend verlängert werden. Auf Bieteranfragen hat der Öffentliche Auftraggeber zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Stoffpreisklausel zu o.g. Produktgruppen vorliegen, es sei denn, der Zeitraum zwischen Angebotsabgabe und Lieferung/Fertigstellung unterschreitet einen Monat oder der Stoffkostenanteil des betroffenen Stoffes unterschreitet wertmäßig ein Prozent der von der Vergabestelle geschätzten Auftragssumme.
Ist die Angebotsöffnung bereits erfolgt, ist das Verfahren in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen, um Stoffpreisgleitklauseln einbeziehen und ggf. Ausführungsfristen verlängern zu können. In Bezug auf bestehende Verträge (Vergabeverfahren ist abgeschlossen; Ausführungszeitraum) verweist der Erlass auf unterschiedliche Fallkonstellationen, die im Einzelfall einschlägig sein können, wie zum Beispiel auf § 6 VOB/B (Fristverlängerung), § 313 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) oder § 132 GWB, § 22 EU VOB/A (Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit). Bei bestehenden Verträgen gilt weiterhin der Grundsatz, dass diese einzuhalten sind.